Rose und Steine auf der Außenmauer einer KZ-Gedenkstätte

"Wir dürfen nicht vergessen", ist die Botschaft des Tags des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.Januar.

Bild: pixabay/Lohrelei

Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

"Wir brauchen solche Gedenktage"

Vor welchen Herausforderungen steht die Erinnerungsarbeit? Fragen an Frank Schleicher, Diakon an der  Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, zum Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus.

Herr Schleicher, seit 2020 sind Sie Diakon an der Versöhnungskirche. Was bedeutet der 27. Januar für Sie?

Frank Schleicher: Ich denke, wir sind allen Opfern des Nationalsozialismus etwas schuldig. Wir schulden ihnen das Erinnern. Wer von "Schuldkult" spricht oder behauptet, "dass jetzt endlich einmal Schluss sein muss", der gibt den Tätern von damals nachträglich recht und verletzt und verhöhnt die Opfer und ihre Nachkommen. Wir brauchen solche Tage, um zu gedenken, uns zu erinnern und nicht zu vergessen. Wir brauchen solche Gedenktage, um aus der Geschichte zu lernen. Für mich hat dieser Tag eine zusätzliche Besonderheit. Viele Fanprojekte und Vereine der Fußballbundesliga erinnern in ganz Deutschland an einem Spieltag rund um den 27. Januar im Rahmen der Initiative "NieWieder! - Erinnerungstag im deutschen Fußball" an die Opfer des Nationalsozialismus direkt im Stadion oder mit Veranstaltungen zu dem Thema. Wir, die Versöhnungskirche, sind nicht nur die Keimzelle, sondern auch Teil dieser Initiative.

"Erinnerungsarbeit bereichert meinen Glauben und erinnert mich jeden Tag an das, was wirklich wichtig ist."

Diakon Frank Schleicher

Was macht die Erinnerungsarbeit im Jahr zwei der Pandemie besonders schwer?

Frank Schleicher: Es geht uns in erster Linie wie allen anderen. Es fehlt oft der direkte Kontakt zu den Menschen. Die Besucherzahlen der Gedenkstätte und damit auch bei uns sind deutlich zurückgegangen. Alle sind vorsichtiger geworden, deshalb haben wir auch viel weniger geführte Rundgänge als in den Jahren vor der Pandemie. Die Arbeit mit Zeitzeugen ist sehr schwierig geworden: Aus Rücksicht auf sie und ihr hohes Alter ist es notwendig, sehr gut zu überlegen, ob eine Veranstaltung in Präsenz stattfinden kann. Dies ist ein wichtiger Teil der Erinnerungsarbeit, der leider zur Zeit stark eingeschränkt ist.

Vor welchen Herausforderungen steht Erinnerungsarbeit heute?

Frank Schleicher: Die Zeitzeugen, die in einer beeindruckenden Art und Weise von ihren Schicksalen berichten, werden immer weniger. Gerade für die Arbeit mit jungen Menschen heißt es hier an neuen Konzepten zu arbeiten und methodisch neue Wege zu beschreiten. Eine große Herausforderung sehe ich auch in einer Entwicklung, die mit den Protesten rund um die Corona-Maßnahmen deutlich zu Tage getreten ist: Antisemitismus, latente Demokratiefeindlichkeit und ein teilweise sehr geringes oder unreflektiertes Geschichtsbild. Die antisemitischen Hetzparolen machen mich wütend. Ich erschrecke immer noch, wenn ich höre, dass Menschen glauben, in einer Diktatur zu leben. Ich weiß, warum meine Arbeit unendlich wichtig ist, wenn ich sehe, dass Demonstranten oder Spaziergänger sich mit Sophie Scholl vergleichen, in den sozialen Medien das Foto vom Tor eines Konzentrationslagers mit der Aufschrift "Impfen macht frei" auftaucht oder Menschen sich mit einem gelben Davidstern und der Aufschrift "Ungeimpft" kennzeichnen. Erinnerungsarbeit ist ein wichtiger Baustein der Demokratiepädagogik.

Gefährlich wäre es, wenn wir mit unseren Bemühungen nachlassen, wenn es eine "schweigende Mehrheit" geben würde, wenn wir aufgeben oder den Populisten folgen, die das Ende der Erinnerungsarbeit fordern. Deswegen finde ich es sehr ermutigend, mit Menschen durch die KZ-Gedenkstätte zu gehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Nicht nur über das "Damals", sondern auch über das "Jetzt".

Was bringt es Christ*innen, sich mit dem Thema Erinnerungsarbeit auseinanderzusetzen?

Frank Schleicher: Als Christ lerne ich gerade, dass mich Erinnerungsarbeit auch persönlich verändert. Vor fast zwei Jahren habe ich mit vielen Fragen meine Stelle in der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau angetreten. Eine meiner Fragen war: "Warum haben Christen und vor allem die Geistlichen, die in Dachau inhaftiert waren, ihren Glauben nicht verloren?" Ob ich diese Frage jemals umfassend beantworten kann, weiß ich nicht. Aber in der Auseinandersetzung mit dem Thema entdecke ich immer wieder eindrucksvolle Glaubenszeugnisse. Wenn ein Pfarrer von der Entmenschlichung als KZ-Häftling berichtet und davon, dass er nur noch eine Nummer war, macht mich das betroffen. Wenn er dann später aber beschreibt, welche Bedeutung der Vers "Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein" für ihn bekommen hatte, dann prägt das auch mich und meine Spiritualität. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Erinnerungsarbeit bereichert meinen Glauben und erinnert mich jeden Tag an das, was wirklich wichtig ist.

Was können Kirchengemeinden tun, damit Erinnerung lebendig bleibt?

Frank Schleicher: In unseren Kirchengemeinden können wir unsere Erinnerungsarbeit kultivieren und so zu einem festen Bestandteil der Gemeindearbeit werden lassen. Die Gedenktage sind ein sehr guter Anlass, um sie in Gottesdiensten oder Andachten thematisch aufzunehmen. Ich erlebe engagierte Pfarrerinnen und Pfarrer, die regelmäßig mit ihren Konfirmand*innengruppen zu einem Besuch in die KZ-Gedenkstätte kommen und das Thema NS-Zeit im Konfirmandenunterricht thematisieren. Ich kenne Verantwortliche in der Jugendarbeit, die Gedenkstättenfahrten organisieren oder mit Jugendlichen zu Opfern des Nationalsozialismus aus ihrer Kirchengemeinde forschen. Es gibt viele Ausstellungen, mit denen Erinnerungsarbeit ganz einfach in das Gemeindehaus geholt werden kann. Auch wir stehen Kirchengemeinden mit Beratung und Informationen zur Seite.

Frank Schleicher, Bild: © privat

Bild: privat

Frank Schleicher

ist seit 2020 Diakon an der Versöhnungskirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau.

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24.01.2022
ELKB

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