Oberkirchenrat Michael Martin bei seiner Abschiedspredigt
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Verabschiedung Oberkirchenrat Martin
Ein Mann mit weitem Blick
20 Jahre lang war Michael Martin als Oberkirchenrat für Ökumene und Kirchliches Leben zuständig. Der Ökumene-Experte ist weltweit bestens vernetzt, manch einer nennt den Posten deshalb auch scherzhaft „Außenministerium“ der Landeskirche. Im Beisein zahlreicher Vertreter aus Kirche, Ökumene und Politik wurde er nun in der Himmelfahrtskirche Sendling verabschiedet. Landesbischof Christian Kopp würdigte ihn als einen Mann "mit dem weiten Blick". Michael Martin habe viel gesehen und viele Menschen gesprochen und seinen weltweiten ökumenischen Blick in alle Arbeitsbereiche einfließen lassen, für die er Verantwortung getragen habe. „Nach zwei Dekaden der Arbeit im Kirchenamt geht eine Ära zu Ende, in der Sie mit Ihrem Engagement für die Botschaft Christi Spuren hinterlassen haben - fachlich wie menschlich“, sagte Innenminister Joachim Herrmann in seinem Grußwort. Die Gespräche mit Martin über Gott und die Welt seien stets eine große Bereicherung für ihn gewesen, so der Innenminister.
Bis zu seinem Ruhestand Ende 2025 wird Martin nun ab Ende August als Projektbeauftragter der Landeskirche für verschiedene ökumenische Jubiläen Aufgaben wahrnehmen und im Lutherischen Weltbund mitarbeiten.
"Zu Dir fallen mir drei Worte ein: Ermutigen. Ermöglichen. Unterstützen. So haben dich viele der Mitarbeitenden erlebt, die jetzt ungern Abschied von dir nehmen."
Landesbischof Christian Kopp zu Michael Martin.
Interview mit dem scheidenden Oberkirchenrat
Die Welt hat sich in den letzten 20 Jahren geändert. Wie macht sich das in Ihrem Arbeitsbereich bemerkbar?
Martin: Als ich hier angefangen habe, hatten wir unsere Kontakte zur russisch-orthodoxen Kirche intensiviert, nach ihrem 1000-jährigen Jubiläum. Russland lag nach der Gorbatschow-Zeit am Boden, es gab Missernten, in den großen landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften war das Getreide auf den Feldern verrottet. Viele Menschen haben von ihrem kleinen Acker um das Haus gelebt, von fünf Quadratmetern oder weniger. Wir haben Jugendcamps mit der russisch-orthodoxen Kirche organisiert, Aufbauprojekte unterstützt, Klöster besucht und Kirchen, die vom Staat zurückgegeben wurden. Das ist heute alles weit weg, wenn der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Putins Angriff auf die Ukraine als Heiligen Krieg bezeichnet und einen Generalablass für alle gestorbenen Soldaten verspricht.
Im Oktober ist es 25 Jahre her, dass die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre unterzeichnet wurde. Viel hat sich seit 1999 nicht mehr bewegt.
Martin: Nur ein Jahr danach, im September 2000, hat der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Josef Ratzinger, diesen unsäglichen Text Dominus Jesus herausgegeben, von dem er meinte, das wäre ein Beitrag zum interreligiösen Dialog. Aber da stand noch einmal unmissverständlich drin, dass die evangelischen Kirchen „nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“ seien. Das hat die Szene ziemlich aufgemischt, weil ja auch auf unserer Seite die ganze Situation nach der Gemeinsamen Erklärung extrem angespannt war. Es gab zum Beispiel diese 150 Theologieprofessoren, die gegen eine Unterzeichnung waren. Es gab Stimmen, die gesagt haben, die Rechtfertigungslehre ist der Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt, und ihr werdet sehen, in der katholischen Kirche wird sich nichts bewegen. Diese Kritiker wurden ins Recht gesetzt durch Dominus Jesus. Das hat dann die nachfolgende Diskussion bestimmt.
Auch an der Kirchenbasis herrscht eine gewisse Ernüchterung, manchmal Hoffnungslosigkeit. Ein gemeinsames Abendmahl ist in weiter Ferne.
Martin: Dennoch war die Gemeinsame Erklärung für die Ökumene ein Durchbruch. Sie ist als einziges Dokument aus dem ökumenischen Dialog mit den Lutheranern in der römisch-katholischen Kirche offizielle Kirchenlehre geworden. Durch die Unterzeichnung der Anglikaner, der Reformierten und der Methodisten ist sie heute sogar ein multilaterales Dialogdokument. Was folgen muss, ist eine gemeinsame Erklärung der Kirchen zum Kirche sein, zum besonderen Amt in der Kirche, einschließlich des Amtes des Bischofs von Rom, und zum Abendmahl. Im Dialog mit der römisch-katholischen Kirche sind theologisch dafür alle Brücken gebaut. Die Frage ist nur, wer begeht sie, und wann werden sie begangen.
Wagen Sie eine Prognose, wo die Ökumene in zehn Jahren steht?
Martin: Durch den Rückgang der Kirchlichkeit gibt es überhaupt keine Alternative zum Miteinander. In Deutschland sind noch rund 50 Prozent der Bevölkerung Christen. Wenn wir nicht zusammenstehen, werden wir den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen verlieren. Wenn wir nicht zusammenstehen, werden wir die Stimme als Kirche in der Gesellschaft verlieren. Wenn wir nicht zusammenstehen, werden wir von unseren Politikern nicht mehr gehört. Also brauchen wir das Miteinander, wir brauchen die Abstimmung unter den verschiedenen Konfessionskirchen, sonst verlieren wir auf der ganzen Breite unseres gesellschaftlichen Engagements - außer wir sagen, wir wollen eine Konventikel-Kirche werden, also eine Wohlfühlkirche Gleichgesinnter. Unsere frohe Botschaft in die Gesellschaft zu tragen, ist Auftrag unserer Kirche - das gilt auch, wenn wir nur noch 20 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Dafür gibt es ja Beispiele in der lutherischen Ökumene.
Martin: Das Evangelium hat eine öffentliche Wirkung, man sieht das zum Beispiel auch in so einer winzig kleinen Kirche wie der lutherischen Kirche in Polen, die sich ganz stark gemacht hat für Offenheit und Diversität in der Gesellschaft. Auch eine kleine Kirche kann mit dem Evangelium in die Gesellschaft hineinwirken.
Ist es ein Ziel, dass die Kirche in der Gesellschaft aufgeht?
Martin: Die Kirche begleitet durch 2000 Jahre diese Herausforderung, dieses eine Evangelium in verschiedenen Kontexten und kulturellen Situationen neu zu sagen. Aber es war nie die Tendenz, dass das Evangelium einfach in der Gesellschaft aufgeht, also dass wir einfach nur noch ein Kulturträger sind neben anderen Kulturträgern. Ich glaube, dieses Widerständige des Evangeliums muss erhalten bleiben. Manchmal muss die Kirche auch der Politik die Stirn bieten, zum Beispiel, wenn Getaufte in den Iran abgeschoben werden sollen. Da muss man einfach die Stimme erheben. Wir haben als Kirche auch Positionen, die nicht dem Mainstream in der Gesellschaft entsprechen.
Sie waren auch Vertreter der Landeskirche in der Härtefallkommission des Innenministeriums, die es ermöglicht, ausnahmsweise eine Aufenthaltserlaubnis an Ausländer zu erteilen, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind.
Martin: Was mich dort immer wieder beeindruckt hat, waren die Erfahrungen, wenn für einzelne Menschen eine Lebensperspektive eröffnet werden konnte. Nach zehn Jahren Härtefallkommission gab es eine Einladung in den schönen Lichthof des Innenministeriums. Da haben dann ein paar Leute berichtet, was aus ihnen geworden ist, was sie für einen Ausbildungsberuf, was für ein Studium sie absolviert haben. Manchen Zuhörern kamen die Tränen, jeder wusste, der Einsatz für diese Menschen hat sich gelohnt.
Ihr Engagement gilt seit vielen Jahren den christlichen Gemeinden im Irak. Die stehen immer mehr unter Druck anderer Gruppierungen in der Region. Was erwarten Sie da von der Politik?
Martin: Unser Engagement war immer ein Doppeltes. Für diejenigen Menschen, die sich auf den Weg machen, weil sie kein Auskommen mehr haben, weil sie verfolgt werden, weil sie vom Krieg bedroht sind, die haben wir unterstützt, bei uns anzukommen. Und wir haben aber auch gleichzeitig unterstützt, dass die historischen christlichen Gemeinden im Irak eine Zukunft haben und Christen dort in ihrer Heimat bleiben können. Im Moment unterstützen wir beispielsweise Projekte, die Menschen in Arbeit bringen. Mit umgerechnet 10.000 Dollar unterstützen wir Menschen, die einen kleinen Betrieb anfangen, eine Autowerkstatt, einen Friseursalon. Wenn es läuft, kann das Geld in Raten zurückgezahlt werden.
Man nennt es „Fluchtursachen bekämpfen“.
Martin: Es sind konkrete Maßnahmen, damit Menschen eine Perspektive bekommen und in ihrem Land bleiben können. Nachdem im Nordirak der sogenannte Islamische Staat zurückgedrängt wurde, haben wir den Wiederaufbau von Wohnhäusern, Kirchen und Schulen unterstützt - damit Geflüchtete in ihre Städte und Dörfer zurückkehren können. Das ist - im Verbund mit vielen anderen Kirchen und Hilfsorganisationen - auch ganz gut gelungen.
Gab es Begegnungen in den Partnerkirchen, die für Sie prägend waren?
Martin: Da könnte ich jetzt ganz viele Geschichten erzählen. Eine davon spielt in einem Flüchtlingslager im Norden Kenias, wo Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Südsudan Zuflucht gefunden haben - 65 Prozent davon unbegleitete Minderjährige, also Kinder ohne Eltern, die gesehen haben, wie ihre Eltern entweder zu Hause oder auf der Flucht ermordet wurden. Es waren um die 100 Kinder in einer provisorischen Schule unter einem Blechdach, das sie gegen die Sonne geschützt hat. Ein Mädchen kam heraus, weil es Luft holen wollte. Mit dem Schulbuch in der Hand kam es mir entgegen, strahlte über das ganze Gesicht und sagte: „Das ist mein erstes Schulbuch, ich bin so glücklich.“ Oder die junge Frau im Hochland von Papua-Neuguinea, die einmal eine Pfarrkonferenz aufgemischt hat. Es gibt in der lutherischen Kirche dort keine Frauenordination; sie war aber theologisch gut ausgebildet, sie war die beste Theologin in der Runde, und sie hat die Männer da an die Wand gespielt. Diese Erfahrung geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Gab es auch traurige Erfahrungen?
Martin: In der Partnerschaftsarbeit gibt es auch Enttäuschungen - wenn Vertrauen missbraucht wird. Eine davon war, als Serge Maschewski 2013 zum Bischof der lutherischen Kirche in der Ukraine gewählt wurde. Er fing plötzlich an, die Kirchen zu verkaufen, die wir nach der Rückgabe durch den Staat renoviert hatten, die Dienstwagen zu verkaufen, die wir zur Verfügung gestellt hatten. Durch seinen Führungsstil spaltete er die Kirche. Das war sehr bitter. Gut, dass der jetzige Bischof, Pavlo Shvarts, seine Kirche wieder auf einen guten Kurs gebracht hat.
Blicken wir auf die evangelische Kirche in Deutschland. In Ihrer Abteilung wurden innovative Gemeindeprojekte aufgesetzt: Fresh X, MUT-Projekte oder die „saeleute“. Ist das die Kirche der Zukunft?
Martin: Wir brauchen ganz sicher eine Umkehr bei unserer Art der Arbeit. Wir dürfen nicht in unseren Gemeinden Angebote machen und warten, bis jemand kommt, sondern wir müssen dorthin, wo die Leute sind. Berggottesdienste, Kirchenmusik zur Marktzeit oder Segnungen auf Metal-Festivals - da passieren tolle Geschichten. Aus meiner Sicht brauchen wir aber auch Ressourcen dafür, und das sind Ressourcen jenseits der parochialen Kirchengemeinde. Da kommt es natürlich dann auch darauf an, dass die Synode in Bezug auf die Ressourcen die richtigen Weichen stellt.
Ihre Amtszeit als Ökumene-Oberkirchenrat endet. Wie geht es für Sie bis zum Ruhestand weiter?
Martin: 2025 stehen zwei große ökumenische Jubiläen an. „500 Jahre Täuferbewegung“ erinnert an die erste Erwachsenentaufe in Zürich Ende Januar 1525. Neben der Wittenberger und der Schweizer Reformation bilden die Täufer die dritte reformatorische Strömung. Dann feiern wir 1700 Jahre nizänisches Glaubensbekenntnis, das im Jahr 325 von der ökumenischen Synode in Nicäa beschlossen wurde. Es verbindet bis heute alle Christen des Westens und des Ostens. Für beide Jubiläen und einige Aufgaben im Lutherischen Weltbund (LWB) nehme ich bis Ende 2025 eine Projektbeauftragung wahr, die dem Landesbischof zugeordnet wird. Dazu gehört auch die Vorbereitung für das große reformatorische Jubiläum „500 Jahre Confessio Augustana“ in Augsburg 2030. Da werde ich jetzt die ersten Schritte gehen und Gespräche mit der Augsburger Oberbürgermeisterin, dem LWB und dem deutschen Nationalkomitee des LWB führen. Die weiteren Schritte werden dann andere gehen.
11.07.2024
epd-Gespräch: Helmut Frank und Roland Gertz