Abschluss-Podiumsdebatte im Auditorium der Evangelischen Akademie Tutzing.
Bild: eat archiv
7. Medienforum der ELKB
Warnung vor „digitaler Zwangsjacke“
Eindringlich schilderte die Neurobiologin Gertraud Teuchert-Noodt die Wirkungen auf das menschliche Gehirn. Auf einem Schaubild zeigte sie, wie nur wenige Hirnareale im Umgang mit Smartphones, Tablets und PCs beansprucht würden während der Rest des Gehirns immer weniger trainiert werde und der Mensch somit auch Denkkapazitäten einbüße. Besonders gravierend sei die Wirkung bei Heranwachsenden, die sich noch in der neuronalen Vernetzungsphase befänden. Teuchert-Noodt warnte vor dem Einfluss von Smartphones und Tablets auf die Entwicklung von Babys und Kleinkindern. Sie mit mobilen Endgeräten spielen zu lassen sei mit einer „digitalen Zwangsjacke“ zu vergleichen, sagte die ehemalige Leiterin des Bereichs Neuroanatomie der Universität Bielefeld am Donnerstagabend in Tutzing.
Ein Schulfach für langsames Denken
Die Bedienung der Geräte hemme sowohl den motorischen Fortschritt als auch die Lernfähigkeit der Kinder, weil sie dabei nicht so stark gefordert würden wie etwa beim Spielen im Sandkasten, sagte Teuchert-Noodt. Auch ältere Kinder und Jugendliche seien von der Schnelligkeit digitaler Anwendungen überfordert. Statt die digitalen Geräte immer stärker in den Schulunterricht zu integrieren forderte die Wissenschaftlerin ein Umdenken: „Es müsste ein Schulfach für langsames Denken geben.“ Tablets in Schulen einzuführen hält die Wissenschaftlerin wörtlich für ein „Verbrechen“. „Was wir erzeugen, ist eine digitalisierte Jugend, die uns aus der Demokratie herausführt!“, warnte Teuchert-Noodt gar.
Ein weiteres, vielfach unterschätztes Problem seien Hirn-Rhythmus-Störungen, die durch zu viel Schnelligkeit in Bewegungen (etwa Laufradfahren bei Kleinkindern) oder auch schnelle Bildeindrücke hervorgerufen werden könnten. Musik und Tanz seien wichtige Tätigkeiten für einen gesunden Hirn-Rhythmus. So stellten etwa das Gute-Morgen-Lied vor dem Lernen oder auch der Schulchor sinnvolle Instrumente dar, um das menschliche Hirn in Lernbereitschaft zu versetzen.
Der in der Landeskirche unter anderem für den Bereich Medien zuständige Oberkirchenrat Detlev Bierbaum rief mit Blick auf den intensiven Gebrauch von Smartphones und Tablets im Alltag dazu auf, die eigene Mediennutzung kritisch zu überprüfen. „Smartphones und Tablets machen es leicht, ständig online zu sein“, sagte der Theologe. Umso wichtiger sei es, sowohl im Beruf als auch im Privatleben Normen für den Griff zum mobilen Endgerät zu entwickeln. Man müsse ein „Gefühl dafür bekommen, wann es angebracht ist, ein Smartphone zu nutzen und online zu sein – und wann nicht“.
Impulskontrolle als wichtige Kompetenz
Konkrete Anhaltspunkte dafür, wann Mediennutzung zur Sucht ausartet und welche Folgen das nach sich zieht, lieferte der Erziehungswissenschaftler Jürgen Eberle, der in seiner Münchener Praxis Familien und Mediennutzer berät. Er macht keinen Unterschied zwischen Mediensucht und anderen Süchten, wie etwa Drogen- und Alkoholabhängigkeit als auch Essstörungen. Alle basierten darauf, dass Menschen Dinge tun, damit sie sich allgemein besser fühlen, nicht langweilen, Frust vergessen oder ablenken. Emotionale Selbstregulation nennt sich das Phänomen, das Menschen dazu befähigt. Doch kann dies in Dosis, Häufigkeit und Dauer zur Gewohnheit werden oder zur Sucht ausarten. Die Folge: Störungen auf der Beziehungsebene zur eigenen Person und anderen, soziale Auffälligkeiten, psychische Störungen, körperliche Einbußen.
Impulskontrolle sei daher eine wichtige Kompetenz, die vor allem Kindern und Jugendlichen von Seiten der Eltern und Bezugspersonen mit auf den Weg gegeben werden müsse, damit sie zu selbstständigen und glücklichen Erwachsenen werden können. Weiter wichtig: Blickkontakt mit Säuglingen und Kleinkindern, Kindern Geschichten erzählen, sie auf die Herausforderungen des Alltags vorbereiten und sie bestärken statt ihnen alles abzunehmen, Zeit zusammen verbringen und analoge Abenteuer erleben, soziale Kontakte pflegen, Körper und Geist als Einheit begreifen und in vollem Umfang beanspruchen. Wichtig auch: Feste Regeln im Umgang mit digitalen Endgeräten – und zwar für Alt und Jung, ein „Handyparkplatz“ zu Hause, den eigenen Konsum von Bildern und Medien kritisch hinterfragen, kein Fernseher im Kinderzimmer, Handys erst ab der 5. Klasse sowie regelmäßige Auszeiten von der Nutzung.
Forderung nach Gesetzen
Eine Podiumsdiskussion unter der Moderation von Simona Hanselmann-Rudolph, theologische Referentin der Abteilung Gesellschaftsbezogene Dienste im Landeskirchenamt, beendete die Tagung am Freitag. Johanna Haberer, Theologin und Professorin für Christliche Publizistik, forderte bei der Debatte einen Jugendschutz vor digitalen Medien bis zu einem Alter von 12 Jahren. Damit ging sie konform mit der Neurobiologin Teuchert-Noodt, die ebenfalls Gesetze fordert, die den Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Bildschirmmedien regeln.
Oberkirchenrat Bierbaum gab darüber hinaus zu bedenken, dass etwa soziale Netzwerke ein wichtiger Weg seien, um als Kirche die Menschen zu erreichen. Sie zu meiden, sei keine Option, denn ein „Rückzug aus der Gesellschaft ist für die Kirche nie angesagt“.
Auch der Erziehungswissenschaftler Eberle hält Balance zwischen Nutzung und Abstinenz digitaler Medien für eine Kernkompetenz. So gehöre es nicht nur dazu, das Ausschalten zu trainieren, sondern in der Schule auf Phänomene der digitalen Welt genauso einzugehen wie auf die aus der analogen Zeit. Er könne sich in einem Fach wie Deutsch neben Gedichtsinterpretationen auch Gaming-Interpretationen vorstellen. Neben dem oft zitierten Spaßfaktor könnten auf diese Weise auch Werte und Inhalte von Videospielen reflektiert werden.
25.09.2019
Dorothea Grass/epd